H.-J. Veen u.a. (Hrsg.): Kirche und Revolution

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Titel
Kirche und Revolution. Das Christentum in Ostmitteleuropa vor und nach 1989


Herausgeber
Veen, Hans-Joachim; Peter, März; Franz-Josef, Schlichting
Erschienen
Köln 2009: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
241 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Nadine Ritzer, Lehrerinnen- und Lehrerbildung, Universität Fribourg PHZ Luzern

Der vorliegende Sammelband basiert auf dem 7. Internationalen Symposium der Stiftung Ettersberg, welches diese 2008 gemeinsam mit der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit und der Landeszentrale für politische Bildung in Thüringen veranstaltete. 17 sehr unterschiedliche Beiträge beleuchten die Rolle der christlichen Kirchen im demokratischen Transformationsprozess in Ostmittel- und Osteuropa. Die jeweiligen Konstellationen von Kirche, Staat und Demokratie kurz vor und nach dem Umbruch von 1989/91 (der Begriff wird diskutiert und je nach Land und Autor als Wende, Umbruch oder Revolution bezeichnet) wird untersucht und anhand von Beispielen exemplifiziert. Leitend ist die Frage, ob sich die Kirchen mit dem kommunistischen Regime des jeweiligen Landes arrangierten, ob sie «Kirchen im Sozialismus» waren, die sich ins Machtgefüge einbetteten oder ob sie sich vom Regime distanzierten. Falls letzteres der Fall war, wird analysiert, inwieweit sie oder kirchliche Gruppierungen die revolutionären Umbrüche aktiv förderten oder gar initiierten.

Richard Schröder, Ehrhart Neubert und Peter Maser beleuchten in je einem Artikel die Rolle der evangelischen Kirchen in der DDR. Alle Autoren unterstreichen deren zentrale Funktion als Plattform für freie Gespräche. Trotz der problematischen Formel «Kirche im Sozialismus» bewahrte sich die evangelische Kirche einen gewissen Handelsspielraum. Als einzige nicht ins SED-Regime eingebundene Organisation konnte sie in der Zeit des Umbruchs 1988 bis 1990 der Opposition ihre funktionierende logistische Infrastruktur zur Verfügung stellen. Die Friedensgebete und die oft im Anschluss daran stattfindenden Demonstrationen bildeten den sichtbarsten Beitrag zur «friedlichen Revolution». Obschon die evangelische Kirche zu einer wichtigen Ersatzöffentlichkeit werden konnte, lässt Schröder keinen Zweifel daran offen, dass sie in der DDR zu schwach war, um «Mutter der Revolution » (11) gewesen zu sein.

Anders lautet die Einschätzung der katholischen Kirche in Polen. Dirk Lenschen und Klaus Ziemer beleuchten ihr Wirken für die Revolution. Ziemer weist in einem historischen Rückblick auf die traditionellen Verflechtungen des polnischen Staates mit der katholischen Kirche hin. In der Wahl Karol Wojtyłas zum Papst 1978 und in dessen «Pilgerreise » in sein Heimatland erkennt der Autor ein zentrales Moment für den Anfangserfolg der Solidarność. Die katholische Kirche Polens nahm eine Mittlerrolle zwischen Regime und Opposition ein, was sie vor allem während des Kriegszustands als «einzige Stimme der Wahrheit in Staat und Gesellschaft» (52) erscheinen liess, wie Dirk Lenschen zitiert. Klaus Ziemer zeigt in seiner Studie die Verbindungen des polnischen Episkopats zur Solidarność auf. An mehreren Gesprächen zwischen Partei und Gewerkschaft waren auch Kirchenvertreter beteiligt – unter anderem der Danziger Bischof Gocłowski bei der Beendigung des Streiks in der Danziger Werft und am lang ersehnten «Runden Tisch» 1989. Bei den ersten freien Wahlen in Polen betonte die offizielle Kirche ihre neutrale Position, während die Solidarność inoffiziell auf die kirchlichen Netzwerke und deren Wahlhilfe zählen konnte, was mit ein Grund war, weshalb die polnische Gewerkschaft einen überwältigenden Wahlsieg verbuchen konnte. Die katholische Kirche in Polen stand zu diesem Zeitpunkt in ihrem Zenit. Nach überstürzten konservativen Reformen verlor sie in der neuen pluralistischen Welt nach 1989 indes an Ansehen.

Die katholische Kirche wird auch in einem Beitrag von Franz-Josef Schlichting zum Thema gemacht – anhand der Ereignisse in Eichsfeld. Thomas Bremer und Konstantin Kostjuk breiten ein Panorama der Stellung der Orthodoxie in Russland aus, wo bereits in der Zwischenkriegszeit zahlreiche antireligiöse Massnahmen den Einfluss der Kirche stark beschnitten. Nach dem 2. Weltkrieg verbesserte sich die Situation nur leicht. Die Beziehungen zwischen der orthodoxen Kirche und dem Staat wurden reguliert. Die Aufgabe der Unabhängigkeit und die Bereitschaft zur Kooperation mit dem Regime, die Akzeptanz der Kontrolle durch den KGB und die Distanz der offiziellen Kirche zu Dissidenten in der Sowjetunion wurden oft kritisiert. Der eigentliche Wendepunkt kam mit der Tausendjahrfeier der «Taufe von Rus» 1988, die vom Staat unterstütz wurde, was Konstjuk auch als Versuch Gorbatschows wertet, die Kirche für die Legitimation der anstehenden Erneuerung zu gewinnen. Beide Autoren zeigen auf, wie sich das Interesse der russisch-orthodoxen Kirchen während der Perestrojka zunehmend vom Staat weg hin zur Nation verschob, was gemäss Bremer auch mit der wachsenden Diaspora der orthodoxen Gläubigen zu erklären sei.

Miklós Tomka beleuchtet die Rolle der Kirchen beim Umbruch in Ungarn, während Tomáš Halík einen Einblick in die Situation der katholischen Kirche in Tschechien gewährt.

In einem zweiten Teil des Buches gehen mehrere Autoren generellen Fragen über die Bedeutung der Religion in der postkommunistischen Gesellschaft nach. Hans Maier stellt drei Modelle des Staatskirchenverständnisses, die Symphonia, die Zweigewaltenlehre und die Trennung dar. Er weist darauf hin, dass die klaren Trennungssysteme des Ostens nach 1989/90 teilweise untergegangen sind und sich im Bereich der Orthodoxie eine teilweise Annäherung von Staat und Kirche vollzog. Mehrere Autoren untersuchen die «christliche Prägung Europas» (Axel Noack, Edelbert Richter, Miklós Tomka und der Erzbischof von Gnesen, Henryk Józef Muszyński). Axel Noack, Detlef Pollack und Inna Naletova widmen dem Wandel in den postkommunistischen Staaten in Ost- und Ostmitteleuropa je einen Artikel, den sie mit interessanten Umfrageergebnissen untermauern und dabei kenntlich machen, dass sich die Religiosität in den verschiedenen Ländern sehr unterschiedlich entwickelte, dass aber die «orthodoxen Hochburgen» (darunter etwa die Russische Föderation, Rumänien oder die Ukraine) interessante Gemeinsamkeiten aufweisen – so etwa die Verbindung zwischen Religion und Nation, die starke Stellung der orthodoxen Kirche als moralische Autorität oder die Wiederbelebung der Klöster (164f.). Die Studien legen detailliert dar, wie sich das Verhältnis der Menschen zur Religion und Kirche im postkommunistischen Ost- und Ostmitteleuropa wandelte. Pollack verbindet die statistischen Befunde mit drei religionssoziologischen Modellen: der Säkularisierungsthese, dem Modell des ökonomischen Marktes und der Individualisierungsthese. Dabei kommt er zum Schluss, dass der Aufschwung von Religiosität und Kirchlichkeit unmittelbar nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus’ zwar für das Marktmodell spreche, dass aber die in einigen Ländern folgende Trendumkehr damit nicht erklärbar sei. Das Ende einer religiösen Renaissance etwa in Tschechien, Polen oder Ungarn sowie das Auseinanderfallen von Kirchlichkeit und Religiosität favorisierten eher die Individualisierungstheorie, die Pollack als Bestandteil der Säkularisierungstheorie interpretiert. In Kombination vermögen die letztgenannten Theorien die Veränderungen des Religiösen im untersuchten geografischen Raum zu erklären.

Den Abschluss des Sammelbandes bildet das Podiumsgespräch des Symposiums, welches Ergänzungen, Präzisierungen und Zuspitzung einzelner Positionen enthält. Insgesamt bietet das Buch einen facettenreichen Einblick in die Stellung der christlichen Kirchen im kommunistischen Europa in der Zeit vor dem Umbruch sowie der demokratischen Konsolidierung nach den Regimewechseln von 1989/91. Die Kontextualisierung des Wandels in die spezifischen historischen und politischen Bedingungen der einzelnen Länder gelingt. Schade ist lediglich, dass einige Autoren den Anmerkungsapparat so schmal gehalten haben, dass wissenschaftlich Interessierte an manchen Stellen die Quellennachweise vermissen werden.

Zitierweise:
Nadine Ritzer: Rezension zu: Hans-Joachim Veen/Peter März/Franz-Josef Schlichting (Hg.), Kirche und Revolution. Das Christentum in Ostmitteleuropa vor und nach 1989, Köln/Weimar/Wien, Böhlau Verlag, 2009. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 104, 2010, S. 521-523

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